Arjen Lucassen ist ein ebenso umtriebiger wie vielbeschäftigter Mann, und so wundert es nicht, daß auch dieses Jahr wieder eine Veröffentlichung von ihm im Programm hat. Diesmal jedoch nicht eine weitere Ayreon, Star One oder Guilt Machine, nein, diesmal wandelt er nicht nur faktisch, sondern auch namenstechnisch auf Solopfaden. Musikalischen Ausdruck findet dieser Umstand zuvorderst in der Tatsache, daß Arjen diesmal nicht einem oder mehreren Gastsängern die Vocals überläßt, sondern sich selbst ans Mikrofon stellt.
Dieser Umstand ruft erst einmal eine gesunde Portion Skepsis hervor, ist ja gerade das Prog-Genre leider Gottes reich an Bands hervorragender Instrumentalisten, bei denen derjenige singen darf/muß, der dies am wenigsten schlecht tut. Doch schon beim ersten Song „The New Real“ wird diese Skepsis weitgehend widerlegt. Das klingt zu Beginn in Teilen nach Jon Oliva zu seligen „Streets“-Zeiten, und ist auf Albumlänge insgesamt recht abwechlungsreich und ordentlich (auch wenn nicht jeder Song gesangstechnisch zu begeistern weiß).
Thematisch kommt wieder einmal der Science Fiction Fan Lucassen raus, eine etwas krude Geschichte um einen jahrelang tiefgefrorenen todkranken Mann („L.“!), der wieder erwacht und sich im „New Real“ nur bedingt zurecht findet. Der Kunstgriff der Utopie als Möglichkeit zur Kritik der Gegenwart ist ja ein altbekanntes literarisches Motiv (von Platon [Politeia, Kritias…] über Thomas Morus [Utopia] zu George Orwell [1984] bis hin zu Philip K. Dick und dem Blade Runner), und Lucassen spielt durchaus versiert und mit scharfem Blick für viele Probleme und Zustände der Gegenwartsgesellschaft damit. Das wirkt zwar stellenweise etwas bemüht im Versuch, auch ja kein Problemfeld (Web 2.0, Umweltzerstörung, Krieg, Urheberrechtsstreit, Überbevölkerung und sozialverträgliches Frühableben, Religion…) auszulassen, ist aber durchaus pointiert und mitunter auch recht witzig wie bei „When I´m A Hundred Sixty-Four“ oder „Where Pigs Fly“ (einem alternate reality Entwurf mit veganem Elvis und einer jungfräulichen Madonna).
Musikalisch findet sich alles, was Lucassen auch bisher ausgemacht hat, vom klassischen Prog und Hard Rock der Siebziger über Folkrock bis hin zu Industrialparts, auch die Beatles schauen hinter nicht nur einer Ecke hervor. Das macht wirklich Spaß und es gibt immer wieder auf´s Neue was zu entdecken. Im Rahmen des Konzeptes fällt hier jedoch schon auf, daß die einzelnen Zutaten im Verhältnis etwa zu den anderen Lucassen-Projekten mehr auf die je einzelnen Songs verteilt sind und so stilistisch recht geschlossene Einzelkompositionen bilden, die dann in ihrer Gesamtheit das variable und abwechslungsreiche Gebilde „Prog-Album“ bilden. Stichwort Album: die Tatsache, daß auf „LOST IN THE NEW REAL“ nur ein Sänger zu hören ist, trägt deutlich dazu bei, daß ich das Ganze als ein Album empfinde, etwas was mich immer so ein klein wenig bei den ansonsten großartigen Ayreon-Sachen gestört hat (bei aller Brillianz der versammelten Sängerschar – das klingt für mich einfach nicht so zusammengehörig).
Highlights sind für mich das Beatles-hafte „Pink Beatles In A Purple Zeppelin“, das große „Don´t Switch Me Off“ – eine faszinierende Melange aus Industrial und Retro-Prog a la Beggars Opera´s „Time Machine“ -, und das düster-heftige „Yellowstone Memorial Day“, Ausfälle gibt’s eigentlich nicht zu beklagen (evtl. in Ansätzen der etwas dröge Titelsong „Lost In The New Real“).
CD 2 featured Songs der Aufnahmesessions, die nicht mehr auf die Haupt-CD gepasst haben. Auch hier ändert sich die Marschroute nicht, das Material ist definitiv nicht schwächer. Ergänzt werden die Eigenkompositionen um Coverversionen von Pink Floyd („Welcome To The Machine“), Led Zeppelin („Battle Of Evermore“), Frank Zappa („I´m The Slime“), Blue Oyster Cult („Veteran Of The Psychic“) und Alan Parson Project („Some Other Time“). Und auch wenn die Motivation hierfür klar und ehrenwert ist (siehe Einflüsse!), stellt sich mir, wie bei nahezu allen Coverversionen, die mir im Lauf er Jahre untergekommen sind, die Frage, ob´s das auf CD wirklich gebraucht hat. Besser ist´s praktisch nie, und gleichwertig eigentlich auch nur selten. Lediglich die Industrial Version von Welcome To The Machine vermag mich in der Neuinterpretation halbwegs zu begeistern. Naja, Schwamm drüber, ändert am sehr positiven Eindruck, den dieses Album bei mir hinterlassen hat, sicher nichts.
Alles in allem ein tolles neues Werk in gewohnt hoher musikalischer Qualität, das neben alteingesessenen Ayreon-Fans sicher ob der Vielfältigkeit auch den ein oder anderen neuen Fan gewinnen dürfte. Rutger Hauer als Sprecher des Psychologen(-roboters?) Voight-Kampff (Blade Runner!) ist ein extra Schmankerl. Absolut empfehlenswert!
Disk 1
- The New Real 6:24
- Pink Beatles In A Purple Zeppelin 3:36
- Parental Procreation Permit 5:03
- When I´m Hundred Sixty Four 2:30
- E-Police 4:07
- Don´t Switch Me Off 4:06
- Dr Slumber´s Enternity Home 3:51
- Yellowstone Memorial Day 3:31
- Where Pigs Fly 3:47
- Lost In The New Real 10:19
Disk 2
- Our Imperfect Race 6:27
- Welcome To the Machine (Pink Floyd Cover) 4:45
- So Is There No God? 4:41
- Veteran Of The Psychic (Blue Oyster Cult Cover) 4:43
- The Social Recluse 3:55
- Battle Of Evermore (Led Zeppelin Cover) 5:28
- The Space Hotel 3:49
- Some Other Time (Alan Parsons Project Cover) 3:21
- You Have Entered The Reality Zone 3:24
- I´m The Slime (Frank Zappa Cover) 2:53
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