Als im September 2010 die Nachricht kam, dass Mike Portnoy Dream Theater verläßt, war das für alle Fans ein ziemlicher Schock – man hätte sich einige Besetzungswechsel zumindest theoretisch vorstellen können, aber daß ausgerechnet das „Gesicht“ der Band hinwirft? Hätte ich nie gedacht.
Solche Dinge laufen natürlich immer etwas unschön ab, und auch DT machen da leider keine Ausnahme. Als Fan sowohl der Band als auch von Mike Portnoy fällt es da mitunter schwer, nicht einseitig zu werden.
Relativ schnell jedoch war die Hoffnung da, daß die Gesamtkonstellation möglicherweise musikalisch auf beiden Seiten gewinnbringend ist: daß MP jetzt viel Zeit hat, mit Neal Morse, Transatlantic und Co. viele hervorragende Platten herauszubringen, und daß die Band die Möglichkeit bekommt, ihre progressive kompositorische Seite, die mir immer die wichtigere und liebere war, wieder etwas mehr zu pflegen.
Zudem hat die Band mit Mike Mangini einen großartigen Nachfolger gefunden, einen absoluten Ausnahme-Drummer, der von der Persönlichkeit her hervorragend zu der Band zu passen scheint und mit seiner offenen und enthusiastischen Art der Band einen zusätzlichen Motivationsschub verpasst hat. Letztlich traurig ist da nur, daß Mike Portnoy, der so viele Jahre so viel für die Band getan hat und der letztlich ob des abgekühlten Betriebsklimas innerhalb der Band seinen Hut nahm, mit seinem Ausstieg genau die atmossphärische Schieflage ins Lot gebracht hat, die er über die vorgeschlagene längere Pause erreichen wollte.
Und ich muß sagen, ja, die Band hat genau das geschafft, was ich gehofft hatte, und ein Album gemacht, das all das vermeidet, was mich an den letzten Platten latent immer ein bisschen gestört hatte (obwohl ich sie alle mag und sie definitiv sehr gut sind):
Die Songs und die Produktion sind nicht mehr so angestrengt gewollt hart und „modern sounding“ (die berühmten Portnoyschen „balls“) – weniger totkomprimiert (wie v.a. auf Systematic Chaos), die Drums diskreter im Mix (wenngleich auch etwas beckenlastig), keine Growls – und auch das Songwriting wirkt deutlich weniger an einer späteren Live-Umsetzung orientiert: John Myung darf wieder mehr zeigen, daß er ein famoser Basser ist und muß nicht mehr schon auf der Platte hauptsächlich die Riffgitarre doppeln (weil ja live die zweite Gitarre fehlt), Backgroundvocals werden wieder hauptsächlich von James LaBrie übernommen (auch wenn es dann live jemand anderes tun muß), und in puncto Songarrangement rückt die Band ein gutes Stück von dem zuletzt doch etwas stereotyp eingesetzten Mittel ab, Songs um stark ausgedehnte Schnellspiel-Solo-Tradeoffs über meist sehr harte Riffs (was live natürlich immer ein Hingucker ist) zu erweitern.
Nicht daß das alles schlecht gewesen wäre (beileibe nicht!), nur die rechte Inspiration, Rafinesse, Originalität und Form-Sorgfalt früherer Alben hatte da in meinen Augen schon etwas darunter gelitten.
Die Songs wirken deutlich strukturierter und schlicht sorgfältiger komponiert als teilweise auf den letzten Alben, und gerade hieran merkt man den gestiegenen Input von Jordan Rudess, der zwar immer schon mit John Petrucci der Hauptkomponisten war, der sich auf dieser Platte aber endlich richtig austoben darf (und im Mix endlich auch außerhalb der Soli gut zu hören ist), wie zuletzt auf der famosen SCENCES FROM A MEMORY und beim Titeltrack von 6 DEGREES OF INNER TURBULANCE. Und das tut der Band und der Platte sehr sehr gut.
ADTOE ist in seiner Gesamtheit sehr melodisch und vor allem auch abwechslungsreich, das Niveau der Songs bleibt meiner Meinung nach über das gesamte Album hinweg konstant hoch: DT klingen wieder eine ganze Platte lang so, wie ich (als Fan der ersten Stunde) mir das wünsche: progressiv, hart, melodisch, harmonisch interessant und sehr virtuos, mit komplexen und wohlstrukturierten Instrumentalparts.
Das ganze Album wirkt sehr souverän und bei aller Komplexität unglaublich entspannt, auch der Mix ist erfreulich zurückgenommen, ausgewogen und offen.
Schon der Opener „On The Backs Of Angels löst viele der Erwartungen an das neue LineUp ein. Gerade auch die Tatsache, daß ein solcher Song als erste Single veröffentlicht wird, zeigt die neue Gewichtung innerhalb der Band (nach den beiden zwar ordentlichen aber für meinen Geschmack eher biederen und ablaufmäßig lieblosen Constant Motion und A Rite Of Passage). Schöne, cleane Gitarren, ein gewaltiger Chor im Intro, ein tolles Pianosolo in der Mitte, gefühlvoller Gesang, ein die vielen Nuancen begleitender und akzentuierender Mike Mangini und insgesamt druckvoll, aber entspannt – ein toller Einstieg.
Experimenteller beginnt der zweite Song, „Build Me Up, Break Me Down“, mit einem synthetischen Beat und immer wieder auftauchenden fast Trent Reznor-haften Soundgebilden, einer harten Riffgitarre, die aber nie zu dominant wird und den Spannungsbogen variabel hält – dazu ein toller Refrain, sehr schön. Eigentlich die naheliegende Single, ein bisschen wie A Rite O Passage, nur abwechslungsreicher und mit einigen eher ungewöhnlichen Details.
Mit „Lost Not Forgotten“ werden erstmals die 10 Minuten geknackt, einem sehr schönen Pianointro folgt die Einführung des Leitthemas durch die Gitarre, bevor nach kurzer Zeit eine kleines Inferno losbricht – Dance of Eternity läßt grüßen. Ein mächtiges Strophenriff untermalt LaBries kraftvollen Gesang, der ein wenig an die leicht angezerrten Awake-Vocals gemahnt. Etwas schade ist nur, dass gerade in den Gesangsparts des Refrains der Song leider etwas powermetalig vor sich hinkartoffelt, nicht schlecht, aber halt etwas dröge. Eine tolle Instrumentalsektion in der Mitte, klassisch DT, mit den typisch percussiven Synth-Sounds von Jordan Rudess, ein klasse Gitarren- und Keyboardsolo und eine dicke Wiederaufnahme des Leitthemas beschließen diesen Song.
Ein absoluter Höhepunkt des Albums ist für mich „This Is The Life“, ein brillianter, ruhiger Song, absolut stimmig von vorne bis hinten, ein durchwegs großartiger James LaBrie, cleane Gitarren und Piano tragen den Song (überhaupt ist es erfreulich zu hören, wie oft beides über das Album verteilt eingesetzt wird), der sich langsam immer weiter steigert und zum Schluß, beim finalen Refrain und dem gewaltigen Gitarrensolo Gänsehaut pur hinterläßt – eine echte Perle!
„Bridges In The Sky“ ist einer meiner Lieblingssongs. Einem (etwas merkwürdigen) schamanischen Meditationsruf folgt eine sehr schöner Agnus Dei -Chor, wobei dem Agnus Dei, theologisch durchaus korrekt, kein Dies Irae folgt, sondern viel Herrlichkeit. Klassisch hartes und akzentuiertes DT-Riffing durchzieht den Song, gepaart mit vielen auch schon typischen JR-Keyboard-Einwürfen, ein längerer, etwas orientalisch angehauchter Instrumentalteil samt einem Keith Emerson -Orgelsolo, ein toller und eingängiger Refrain – hat man zwar alles irgendwie schon mal von der Band gehört, aber schon länger nicht mehr so gut, und wieder fällt positiv auf, daß die Härte des Albums mehr eine Scenes From A Memory-Härte ist als eine Systematic Chaos-Härte.
Vergleichbar, nur noch etwas besser wird es mit „Outcry“, einem wirklich großartigen Song mit einem schönen Hook, der mit einem fast Spieluhrartigem-Piano beginnt und alles auffährt, was man von Dream Theater kennt. Der Instrumentalteil in der Mitte ist exzellent, sehr schön auskomponiert und um mehrere halsbrecherische Gitarren / Keyboard-Unisons arrangiert, ein kleiner ELP-Einwurf hier, eine Mini-Metropolis Pt.1 Reprise da, zwei Solo-Bass-Einwürfe, und wieder kann ich nur feststellen, wie wohltuend es ist, daß an keiner Stelle der Platte unmotiviert geshreddet wird, das ist alles sehr kontrolliert und überlegt.
„Far From Heaven“ ist eine schöne kleine Klavierballade mit sparsamen Streicherarrangement, und wie auf der ganzen Platte klingt LaBrie auch hier bei den ruhigen Gesangsparts durchwegs hervorragend. Thema Gesang: meinem Empfinden nach ist die Performance sicherlich die beste der letzten Jahre, von der Produktion her für meinen Geschmack manchmal etwas zu offensichtlich gelayert, und sehr angepasst an LaBrie´s Tonlage, so daß er nichts singen muß, was ihm nicht so liegt.
Der beste Song des Albums ist für mich „Breaking All Illusions“ – schlicht brilliant! Müsste ich ihn einordnen, so erinnert er mich von der Art und der durchweg entspannten Atmosphäre an Learning To Live, was insofern auch passend ist, als hier John Myung zum ersten Mal seit eben diesem Song den Text geschrieben hat. Apropos Texte: diese sind diesmal für mich auch wieder deutlich besser. Seit Kevin Moore´s Abschied höre ich DT zwar kaum wegen der Texte, und auch diesmal sind keine groß herausragenden dabei – aber eben auch keine über toskanische Weinkeller. Starke Basslinien, die den ganzen Song tragen, sphärische Flächen, der beste Refrain des Albums, wieder ein komplett stimmiger und sorgfältiger Songaufbau, viele Stimmungs- und Dynamikwechsel, und das ausgedehnte Gitarrensolo über die gänzlich tiefenentspannte Orgel- und Drumbegleitung ist schlichte pure Magie – ganz großes Kino!
Ich hatte schon über die entspannte Atmossphäre gesprochen, die sich durch das ganze Album zieht, und konsequenterweise hört es dann auch mit einem ruhigen Song auf, „Beneath The Surface“. Einer der Höhepunkte hier ist das „Lucky Man“-Reminiszenz Keyboard-Solo, die ganze Band nimmt sich ein letztes Mal songdienlich zurück.
Sehr entspannt, ein schöner Ausklang des Albums und das erste Mal seit Space-Dye Vest, daß ein solcher Song eine DT – Platte beschließt – untypisch, aber im Kontext sehr passend!
Alles in allem muß ich sagen, daß ich wirklich begeistert bin. A DRAMATIC TURN OF EVENTS ist für mich ein durchgängig sehr gutes Album, das auf allen Ebenen in den Details stimmig ist, und all das vermeidet, was ich an den letzten Alben nicht ganz so gelungen fand.
Hat es die Klasse von IMAGES & WORDS oder SCENCES FROM A MEMORY?
Möglicherweise nicht ganz, dazu fehlen mir noch die ganz großen Gesangsmomente außerhalb der Balladen, die Songs wie etwa Learning To Live so überaus herausragend machen, und natürlich hat man alles auch schon mal von der Band gehört. Das aber kann man ihr definitiv nicht vorwerfen: Dream Theater klingen nach Dream Theater, und darüber, daß sie mit ADTOE auch wieder den Mut aufgebracht haben, genau das eine ganze Platte lang kompromisslos zu tun, bin ich wirklich sehr froh!
- On the backs of angels
- Built me up, break me down
- Lost not forgotten
- This is the Life
- Bridges in the sky
- Outcry
- Far from heaven
- Breaking all illusions
- Beneath the surface
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